
Dokumentation Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“
Die Dokumentation zum Theatertreffen Unentdeckte Nachbarn zum herunterladen und lesen.
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DAS THEATERFESTIVAL „UNENTDECKTE NACHBARN“ HAT IN DEN LETZTEN BEIDEN WOCHEN DAS FATALE WIRKEN RECHTEN TERRORS DER GRUPPE „NATIONALSOZIALISTISCHER UNTERGRUND“ IN UND AUS SACHSEN MIT KÜNSTLERISCHEN MITTELN AUSGELEUCHTET. DABEI GELANGEN DEN MACHERN FRAGE-ANSÄTZE UND PERSPEKTIVWECHSEL, DIE IN DER TAGESPOLITIK OFT UNTERGEHEN – ODER GANZ FEHLEN.
Mehr dazu „Freie Presse: Terrorsplitter als Theaterpuzzle“ →
Chemnitz, 08.11.2016
Eine gemeinsame Pressemitteilung der Initiative „Grass Lifter“, des Kulturbüro Sachsen e.V. und des ASA-FF e.V.
Die Organisator*innen des Theatertreffens „Unentdeckte Nachbarn“ verurteilen den Anschlag –mutmaßlich mit Sprengmitteln – auf das Kulturprojekt „Lokomov“ in der Nacht zum 08.11.2016. Das „Lokomov“ ist ein Austragungsort des Theatertreffens. Wir solidarisieren uns mit dem Chemnitzer Kulturprojekt und teilen die Sorge, dass das Haus und die dort engagierten Menschen fortgesetzt zum Ziel von Angriffen werden.
Wir erwarten eine vollumfängliche Untersuchung durch die Polizei und dabei insbesondere die Prüfung einer etwaigen politisch motivierten Tat. In der Vergangenheit kam es bereits mehrfach zu Straftaten mit neonazistischen Hintergrund im und vor dem „Lokomov“. Daher begrüßen wir die Aufnahme von Ermittlungen durch das Operative Abwehrzentrum. „Darüber hinaus vertrauen wir auf den Schutz aller weiteren Veranstaltungen im Rahmen des Theatertreffens durch die Polizei.“ äußerte sich Franz Knoppe, Projektleiter des Theatertreffens „Unentdeckte Nachbarn“.
Das Theatertreffen untersucht die Bedingungen im Südwesten Sachsens, die das Untertauchen des NSU, dessen Morde, Mordversuche, Bombenanschläge und Raubüberfälle begünstigt haben.
„Wir stellen mit Bedauern fest, dass unsere Problembeschreibung des „Nicht-Sehens“ nichts an ihrer Aktualität verloren zu haben scheint.“ betont Jane Viola Felber vom Kulturbüro Sachsen. „Einige Reaktionen in Sozialen Medien auf den Anschlag heute Nacht bewegen sich in der bekannten Mischung aus Relativierung, Schuldzuweisung an die Betroffenen und unverhohlener Freude über den Anschlag.“
Eine Auseinandersetzung mit menschenverachtenden Einstellungen und ein aktueller Überblick über die Neonazi-Szene und die Neue Rechte in Chemnitz. Weiterlesen
Laura Linnenbaum, Kuratorin des Theatertreffens „Unentdeckte Nachbarn“ in Chemnitz und Zwickau, über die künstlerische Aufarbeitung des NSU im Gespräch mit Andreas Herrmann
Chemnitz und Zwickau werden vom 1. bis 12. November zu Hauptstädten der Aufklärung. Zumindest was den selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrund“, in der Presse oft kurz und knapp nur als NSU bezeichnen, anbetrifft. „Unentdeckte Nachbarn“ lautet der Titel dieses ambitionierten Festivals, das sich dem Umfeld der Orte widmet, an denen das aus Jena geflüchtete Trio zweitweise wohnte (in Chemnitz von 1998 bis 2000, in Zwickau von 2000 bis 2011). Auf Initiative des Vereins Gras Lifter, einer freien Künstlergruppe, die sich zusammengefunden hat, um Aufarbeitung, Erinnerung und Aufklärung über den NSU in Zwickau, Chemnitz und Sachsen zu stärken, warben die Organisatoren um Projektleiter Franz Knoppe dafür Mittel im unteren sechsstelligen Bereich ein. Insgesamt 30 Veranstaltungen an 18 Orten stehen auf dem Programm, darunter drei Ausstellungen und zwölf Diskussionen, die nicht nur in den beiden westsächsischen Städten, sondern teils auch in Bautzen, Jena, Nürnberg und Dresden gezeigt werden.
Im Vorfeld des Treffen unterhielt sich Andreas Herrmann für Theater der Zeit mit Laura Linnenbaum, Kuratorin der zehn eingeladenen Theaterproduktionen. Die Nürnbergerin, Jahrgang 1986, inszenierte zudem die Uraufführung „Beate Uwe Uwe Selfie Klick – eine europäische Groteske“ nach einem Text von Gerhild Steinbuch.
Frau Linnenbaum, Sie haben als Regisseurin viel in Bonn, Saarbrücken und Osnabrück gearbeitet. Was hat Sie jetzt nach Sachen geführt, nach Chemnitz, in die Gesellschaft des freien Kollektivs Grass Lifter, das sich künstlerisch für die Aufarbeitung des NSU einsetzt?
Gundula Hoffmann, Direktorin der Figurensparte am Theater Chemnitz, und Festivalchef Franz Knoppe haben die Grass Lifter einst mitgegründet. Die Gruppe hat ein Stück der Wiese, die über der Freifläche des Zwickauer Wohnhaus, das von Uwe, Uwe und Beate bewohnt wurde und 2011 abgebrannt ist, ausgegraben und der Oberbürgermeisterin übergeben. Sie wollten „kein Gras über die Sache wachsen lassen“. Deshalb gibt es jetzt – rund um den fünften Jahrestag der Aufdeckung des NSU-Trios am 4. November – dieses Festival mit dem Namen „Unentdeckte Nachbarn“. Gundula Hoffmann kannte meine Arbeit und meinen Wunsch, mich mehr mit politischen Stoffen zu beschäftigen. So kam zunächst der Regieauftrag, dann die Kuratorenaufgabe.
Wie geht man ein solches Festival an?
Man guckt deutschlandweit und auch international aktuelle Stücke, die sich mit dem Thema NSU oder Rechtsextremismus befassen. Unser Programm ist dabei sehr vielfältig geworden, wer glaubt, dass Lachen bei dem Thema ausgeschlossen ist, täuscht sich. Emotionale Höhen und Tiefen sind inklusive. Dabei gibt es keinen moralischen Zeigefinger, kein Expertentheater, sondern berührende, ehrliche Stücke, so wie „Urteile“ vom Münchner Residenztheater in der Regie von Christine Umpfenbach, das uns auf wunderbare Weise die Opferperspektive nahe bringt.
Ich habe 80 Stücke gesichtet – viele live, noch mehr im Zug auf DVD – aber alle komplett! Im September 2015 habe ich begonnen. Einige Stücke waren zu der Zeit kurz davor, abgespielt zu werden, andere sind während der Vorbereitung des Festivals erst in der Entstehungsphase gewesen. Daran sieht man, dass das Thema die Theater schon eine ganze Weile interessiert und nach wie vor beschäftigt.
Nun zu Ihrer Inszenierung. „Beate Uwe Uwe Selfie Klick“ ist ein Auftragswerk …
Genau. Der Untertitel heißt nun „Eine europäische Groteske“. Wir wurden von der Autorin Gerhild Steinbuch ausdrücklich aufgefordert, es mit dokumentarischem Material anzureichern. Ich wurde in der Vorbereitung öfter gefragt, warum wir uns an einen noch nicht abgeschlossenen Fall heranwagen. Und ehrlich gesagt: Am Ende geht es gar nicht um diesen speziellen Fall. Es geht darum, wofür er steht und warum die Aufdeckung des NSU kein bisschen an unserer Wahrnehmung des deutschlandweit stattfindenden Rechtsruck geändert hat. Ich bin sehr froh, dass Gerhild Steinbuch für uns als Autorin einen so spielerischen und fantasievollen Blick auf diese Themen wirft.
Die Inszenierung arbeitet auch mit Puppen. Wie darf man sich die vorstellen?
Die Beate Zschäpe, die wir aus dem Prozess kennen, ist eine Konstruktion. Sie wird durch eine menschengroße Tischpuppe dargestellt, die alles kann, was die jeweiligen Nachbarn an ihr beobachtet haben. Aber sie bleibt stumm – wie im Prozess. Insgesamt gibt es fünf Puppen und viel Objekttheater.
Und Uwe und Uwe?
Die kommen nicht vor. Dafür 30 braune Winkekatzen mit typischer Armbewegung.
Vor wenigen Wochen gab es zudem einen neuen ungeheuerlichen Fund. Im Juli hatte ein Pilzsammler die Leiche der im Mai 2001 ermordeten neunjährigen Peggy in einem Wald bei Rodacherbrunn in Thüringen gefunden. Wie Ermittler jetzt entdeckten befanden sich auch DNA-Spuren von Uwe Böhnhardt am Fundort.
Auch diese Fährte wird in unserem Stück thematisiert . Auch Alice Schwarzer taucht auf. Lassen Sie sich überraschen.
Im März sind Sie dann schon wieder in Sachsen?
Ja, am Staatsschauspiel Dresden zur Uraufführung von „Homohalal“ von Ibrahim Amir.
Das Stück sollte am Wiener Volkstheater zur Uraufführung kommen, wurde aber noch vor der Premiere wieder abgesetzt …
Ja, aber da war die Stückfassung auch noch sehr roh. Wir sitzen jetzt mit dem Autor Ibrahim Amir an einer Dresdner Spielfassung. Eine neue Version, die gut nach Dresden passt – auch zum Montagscafé, bei dem sich Dresdner und Geflüchtete im Kleinen Haus treffen. Es ist eine Dystopie über die Zukunft, über die Frage, was mit den Aktivisten von heute in 20 Jahren passiert. Der Autor, selbst syrischer Kurde, spielt unter anderem mit dem Thema Homosexualität als Grund für andauernde, verquere Ausgrenzung. Und mit der Doppelmoral in „seiner“ und „unserer“ Community. Das schöne ist, dass er dabei alle kulturellen Missverständnisse nicht nivelliert, sondern auf zwischenmenschliche Unstimmigkeiten herunterbricht. Das erzeugt – bei aller politischen Dystopie – auch komödiantische Freude.
Dennoch sind 20 Jahre eine lange Zeit – da kann viel passieren …
Am Menschsein hat sich vermutlich auch in 20 Jahren noch nichts geändert. Aber was ich beobachte ist, dass die Fluchtbewegungen, die ja nicht nur Krieg, sondern zunehmend auch Umweltkatastrophen zur Ursache haben, dazu genutzt werden, wieder klammheimlich aufzurüsten. Dieser Militarismus ist natürlich ein fruchtbarer Boden für den Nationalismus, der langsam wieder zur Blüte reift. Das kann maninternational beobachten – und ich finde das extrem beängstigend.
Können Sie sich vorstellen, Ihr buntes Wandertheaterleben aufzugeben und fest an ein Haus zu gehen?
Na sicher, irgendwann einmal. Mit Leuten, die man gut kennt, zu arbeiten, sich an ihnen zu reiben und sich zu entwickeln, ist schon reizvoll. Ich liebe es aber auch, irgendwo einzutauchen. Wie jetzt gerade hier in Chemnitz – wo ich gerade mit einem unwahrscheinlich schönen
Ensemble arbeite.
Was wäre denn dafür Ihr Lieblingshaus?
Ich hab mich an allen Theatern sehr wohl gefühlt. Zurzeit hängt mein Herz durch die letzten Arbeiten natürlich ein bisschen an Bonn, aber auch Saarbrücken und Osnabrück sind tolle Häuser. Frankfurt ist meine Kinderstube. Noch genieße ich das Nomadenleben, aber irgendwann möchte ich schon ankommen und bleiben.
Netzinfos mit aktuellem: www.unentdeckte-nachbarn.de
Laura Linnenbaum hatte am 20. Oktober ihren ersten großen Auftritt in Chemnitz: Ihre partizipative Audioinstallation „Gib Deine Stimme“ in vier goldenen Telefonzellen wurde am Abend eröffnet und erzählt bis zum 11. November auf dem Johannisplatz Fluchtgeschichten aus verschiedenen Zeiten, die vom Publikum ergänzt werden können. Foto Andreas Herrmann
Hier sind die Links zu dem Programmflyer und dem Programmheft für das Theatertreffen Unentdeckte Nachbarn zu finden.
Rechtsextremismus wird in der Öffentlichkeit meist mit gewaltbereiten Männern in Verbindung gebracht. Frauen in der rechten Szene wird hingegen kaum Beachtung geschenkt. Sie treten selten mit Bomberjacke und Springerstiefel auf, sondern pflegen das Image des »Heimchens am Herd«. Ihr Verhalten ist stets freundlich, hilfsbereit und nett. Es fällt schwer zu glauben, dass solche Frauen die Strategien der Nazis bewusst mittragen und verbreiten. Mit Verweis auf vermeintlich soziale Themen wie Familie, Bildung und Jugend versuchen sie bewusst, Wählergruppen anzusprechen und für rechtes Gedankengut zu gewinnen. Oft gelingt es ihnen so, ihre politischen Botschaften und rechtsextremes Gedankengut geschickt zu platzieren. Besonders heikel ist, dass ihre Ideologien auf diese Weise Eingang finden in sensible Bereiche wie Kitas, Schulen oder Sportvereine. Ich warne davor, rechtsextreme Frauen nicht ernst zu nehmen. Beim NSU ist deutlich geworden, dass rechtsextremer Terror auch von Frauen verübt wird. Beate Zschäpe ist Hauptangeklagte im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht. Wir brauchen eine besondere und erhöhte Aufmerksamkeit beim Einfluss von Frauen in rechtsextremen Organisationen und ihrer Beteiligung an rechtsextremen Aktivitäten. Wir alle sind gefordert – Polizei, Justiz, Verfassungsschutz und Zivilgesellschaft.
Was bedeutet das Schweigen der Täter, das Schweigen eines komplexen Unterstützernetzwerkes, das Schweigen der Nachbarn und das Schweigen der Betroffenen in Konfrontation mit Vorurteilen und Ermittlungsfehlern? Zuletzt unser beredtes Schweigen, das Schweigen von Politik und Zivilgesellschaft, die inständig hoffen, gerade über einen in sich geschlossenen (Einzel-)Fall zu verhandeln. Etwas, das nach Abschluss des Prozesses erledigt sein wird und bei dem wir nicht genötigt sein werden, auch einmal bei uns selbst die Einstellungen und Ängste zu überprüfen, die wir Bürger mit uns herumschleppen und die verhindern, dass wir offenen Auges unsere „Unentdeckten Nachbarn“ sehen. Die „guten“ wie die „schlechten“.
Der NSU, seine Entstehung und Aufrechterhaltung, wird dabei zum Seismographen unserer Zeit. Das Theater hat die Aufdeckung der Verbrechen von Beginn an zum Anlass genommen, öffentlich über den Zustand unserer Gesellschaft nachzudenken.
Über 80 Stücke, Installationen und Performances haben wir kuratiert, in zahlreichen Publikumsgesprächen den Zukunftsüberlegungen und Vergangenheitsfragen von Zuschauern, Schauspielern und Experten gelauscht, das Gras in der Zwickauer Frühlingsstraße 26 beim Wachsen beobachtet, die Veränderungen der Keupstraße zwölf Jahre nach dem Nagelbombenattentat gesehen, Beate Zschäpe in verschiedenen Formen und Varianten auf der Bühne des Oberlandesgericht in München und im TV wie im Theater verfolgt.
Der NSU-Komplex stellt unsere Gesellschaft in vielen Bereichen in Frage. Sei es der Fall selbst, der Verlauf der Ermittlungen, der Umgang der Medien, die Reaktionen des Umfelds der Opfer, das Schweigen der Unterstützer, die Verstrickung des Verfassungsschutzes oder der schleppende, langwierige, undurchsichtige Verlauf des Prozesses. Das alles steht symptomatisch für eine langandauernde Entwicklung innerhalb Deutschlands, Europas und über die europäischen Grenzen hinaus. Die radikale Rückbesinnung auf nationale Identitäten, die zunehmende Stigmatisierung des Fremden und des Anderen als Bedrohung der eigenen Kultur sind kein reines Phänomen an den Rändern der Gesellschaft, sondern das, was in unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert.
Das Theater ist mehr denn je dazu aufgerufen, uns zu einer Haltung gegenüber dieser Entwicklung herauszufordern. Die Inszenierungen, Performances und Installationen, die wir nun zum Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“ eingeladen haben, tun das. Und sie tun es in herausragendem Maße. Teils mit spielerischem Humor, teils mit bitterem Ernst, mal berührend leise, mal wild und provokativ, mit Tanz, Musik, Puppen und hochqualitativem Sprechtheater.
Vom 01. bis 11. November 2016, rund um den fünften Jahrestag der Aufdeckung des NSU, präsentiert „Unentdeckte Nachbarn“ ein Spektrum von Arbeiten, die mit ihrer Perspektive auf den Komplex den Blick über den Tellerrand hinaus gewagt haben. Die eine Verbindung zu unseren alltäglichen Umgangsformen mit „dem Fremden“ schaffen und althergebrachte koloniale Denkstrukturen aufzeigen. Gerahmt wird dieses Programm von Lesungen und Diskussionsrunden, einem kooperativen Schulprojekt und theaterpädagogischen Angeboten.
Zehn Tage lang bieten Die Theater Chemnitz, Theater Plauen-Zwickau und viele weitere Orte und Theater in Städten, in denen das Trio jahrelang „unentdeckt“ geblieben ist, ein Forum, in dem wir gemeinsam laut über unsere Gesellschaft nachdenken können. „Unentdeckte Nachbarn“ heißt, dass wir nicht schweigend zusehen werden, sondern gewillt sind, Sehgewohnheiten und Sichtweisen zu ändern, Zusammenhänge aufzuzeigen und Fragen zu stellen. Dazu möchten wir Sie herzlich einladen! Wir bedanken uns bei unseren Kooperationspartnern und freuen uns auf Ihren Besuch!
Herzliche Grüße
Laura Linnenbaum
(Kuratorin & Künstlerische Leiterin Unentdeckte Nachbarn)
Sehr geehrte Damen und Herren,
vor fünf Jahren wurden die Verbrechen der NSU-Gruppe endlich aufgedeckt. Zwischen 2000 und 2007 wurden neun Männer mit Migrationsbiographie und eine Polizistin ermordet. Die Spuren der rechtsextremen, mutmaßlichen Täter reichen bis in unsere Stadt.
Ein Theatertreffen in Chemnitz greift mit dem Titel „Unentdeckte Nachbarn“ dieses Thema auf. Hier hält zeitgenössisches Theater uns den Spiegel vor. Die Veranstalter fordern Aufarbeitung.
Wir müssen uns eingestehen, dass sich direkt in unserer Stadt und in der näheren Umgebung über viele Jahre ein kriminelles Netzwerk ausgebreitet hat, ohne dass dessen Machenschaften zugeordnet oder verhindert wurden. Die mutmaßlichen Mörder lebten direkt unter uns.
Die Aufklärungsarbeit der staatlichen Behörden stand von Anfang an in der Kritik. Aber auch in der Gesellschaft dürfen diese Taten nicht verschwiegen werden.
Immer wieder ist zu beobachten, wie mit Vorurteilen und Falschaussagen Hass gegen Minderheiten erregt wird und rechtsextremes Gedankengut sich in der Bevölkerung verbreitet. Mit dem Lokalen Aktionsplan für Demokratie, Toleranz und für ein weltoffenes Chemnitz versuchen wir seit 2009 hier gegenzusteuern. Die Umsetzung wird jährlich mit 80.000 Euro aus dem Stadthaushalt unterstützt. Unter anderem werden Projekte gefördert, die sich mit Fremdenhass und Rassismus kritisch auseinandersetzen – so wie das Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“.
Das Theatertreffen nimmt die Strukturen vor Ort und das Leben in unserer Region kritisch unter die Lupe und will gleichzeitig den Opfern und den Opferfamilien gerecht werden. Es bietet uns die Chance, künstlerische Perspektiven einzuladen und einen Diskurs zu beginnen. Die Theaterstücke und ein umfangreiches Rahmenprogramm holen die Fakten in unser Leben, zeigen die Perspektive der Betroffenen und sensibilisieren für den Umgang mit Fremden.
Auch wenn uns die Gedanken und Konfrontation schmerzen, ist ein öffentlicher Diskurs wichtig, ja notwendig.
Ihre
Barbara Ludwig
Das Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“ findet vom 1.-11. November 2016, um den 5. Jahrestag der Aufdeckung der NSU-Verbrechen herum, in Chemnitz und Zwickau statt.
„Unentdeckte Nachbarn“ waren die Beteiligten des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU), die mehr als zehn Jahre von 1998 bis 2011 unentdeckt von Chemnitz und Zwickau mordeten und Terroranschläge verübten. Zehn Menschen wurden getötet, dutzende Andere durch Bombenattentate und Raubüberfälle teils schwer verletzt und mehr als 260.000€ allein in Südwestsachsen zur Finanzierung der Verbrechen erbeutet.
Vielfach unentdeckt oder weitestgehend unbehelligt bleiben auch bis heute Unterstützungsstrukturen in der Region, die hinter dem NSU standen und die teils bis heute fortbestehen.
„Unentdeckte Nachbarn“ sind aber auch die Menschen, die zu den Opfern und Betroffenen der NSU-Verbrechen gehören, sowie lange Zeit für die Morde und Anschläge verantwortlich gemacht worden sind: Menschen mit Migrationsbiographie. Unentdeckt, weil sie vielerorts als Gefahr wahrgenommen und nicht als Nachbarn entdeckt werden. Und unentdeckt daher, weil ihre Perspektive in der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen kaum Gehör findet.
Das Theatertreffen „Unentdeckte Nachbarn“ hat Theaterstücke aus Köln („Die Lücke“) und Münster („Auch Deutsche unter den Opfern“) eingeladen. Weitere Städte, wie Jena, Hamburg, Nürnberg und Dresden werden mit eigenen Beiträgen eingebunden. Ein politisches Begleitprogramm erweitert den Rahmen, um einen Austausch für Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft und Kultur aus Sachsen über den NSU-Komplex zu fördern. Es soll die Öffentlichkeit für Leerstellen in der Aufarbeitung des NSU-Komplexes sensibilisieren. Die Impulse ermöglichen eine stärkere Übernahme von Verantwortung in diesen Bereichen.
Wir laden Sie ein, unser Programm zu nutzen, mit uns zu diskutieren und neue Perspektiven kennenzulernen.
Herzliche Grüße
Franz Knoppe (Projektleitung Unentdeckte Nachbarn)
Laura Linnenbaum (Künstlerische Leitung und Kuratorin)
Gundula Hoffmann (Figurentheater Chemnitz)
Jane Viola Felber (Kulturbüro Sachsen)